Leserbrief an der Erdinger Anzeiger zum Thema Internationalisierung des Arbeitsmarkts

Tobias Boegelein

Eines meiner größten politischen Anliegen im Zusammenhang mit der voranschreitenden Digitalisierung bleibt, dass Sachverständige in diesem Themenfeld Aufklärungsarbeit betreiben und auch gehört werden sollen. Vielleicht sollte ein solches Schulungsangebot bei den Lokalreportern des Erdinger Anzeigers beginnen.

Der Titel „Digitalisierung als Ausbeuter“ spricht Bände über die Sachkenntnis des Autors was die Digitalisierung von modernen Prozessen in professionellen Arbeitsumfeldern betrifft. Natürlich ist es nicht die Digitalisierung, die das Kräfteverhältnis zwischen den Angestellten und den Arbeitgebern verschiebt. Sie bietet jedoch neue Möglichkeiten: Arbeitsplätze entstehen ortsunabhängig, Arbeitsschritte werden vereinfacht – Mitarbeiter damit ersetzbarer. Jeder, der wie ich das letzte Jahr im Homeoffice verbracht hat, hat die Tücken dieser Arbeitsform erlebt, vielleicht sogar erlitten. Den Unternehmen entsteht damit ein geldwerter Vorteil, woran einige vor der Pandemie noch nicht dachten. So entpuppt sich die aktuelle Situation als Beschleuniger dieser Entwicklung.

Nur wenig Branchen haben ihre Arbeitsabläufe bereits vollständig digitalisiert. Jedoch lohnt sich ein wacher und kritischer Blick dorthin. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Dezember 2020 hat ein polnisches Entwicklungsunternehmen mit europaweit über 1.000 Angestellten für Schlagzeilen gesorgt, weil es ihre Programmierer monatelang ohne Wochenenden oder Urlaub 60 bis 80 Stunden für umgerechnet etwa 430 Dollar pro Monat arbeiten ließ – wenn man den zahlreichen Berichten auf Twitter Glauben schenkt. Das polnische Arbeitsrecht lässt das grundsätzlich zu. Diese Art der Projektplanung nennt man in der Szene „crunching“ und diese Praxis ist in Europa gar nicht so selten.

Es ist nur eine Frage der Zeit bis sich auch unser Dienstleistungssektor solche Optimierungspotenziale erschließt. Derzeitige Bestrebungen scheitern eher an der Blauäugigkeit oder an den antiquierten Organisationsstrukturen einzelner mittelständischer Betriebe als an den technischen Möglichkeiten.

Das eigentliche Problem ist hier die Trägheit der Politik und leider auch von einigen der großen Gewerkschaften auf diese neue Art der Lohnarbeit angemessen zu reagieren. Dies ist einleuchtend, weil in den Behörden wie auch in den klassischen Sektoren diese Entwicklung noch nicht angekommen ist. Zu groß sind die damit einhergehenden innerbetrieblichen Machtverschiebungen. Zu wenig organisiert sind die betroffenen Beschäftigten. Zu charmant Argumente wie: Man handle doch ökologisch, wenn Pendelfahrten reduziert werden.

Das ist es, was ich allein unter dem Stichwort „Internationalisierung des Arbeitsmarkts“ verstehe. Die in dem Artikel erfolgte Bezugnahme zu dieser Thematik in Form einer Karikatur des Klassenkampfes zeigt mir eindrucksvoll die Notwendigkeit meines Engagements.

Originalartikel